Werte nur Zeitgeist
In Ihrem Buch „gestatten Elite“ fragt sich Julia Friedrichs, warum ihre eigenen Eltern sich nicht mehr über den hohlen kapitalistischen Geist der neuen Elite empörten. Auch ihre Eltern lehrten sie Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit. Friedrichs vermutet, dass diese Werte Zeitgeist, ja Attitüde gewesen seien. Es sei eine Zeit gewesen, in der die Mittelschicht sich neben Grundbedürfnissen eben auch soziale Bedürfnisse habe leisten können. Heute, wo die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg bereits weite Teil der Mittelschicht erfasst habe, hätten sich die Wertmaßstäbe verschoben. Daher bleibe die Empörung der Eltern aus.
Gefährlich abschüssig
Vielleicht ist das die Erklärung dafür, dass wir die fortschreitende Ökonomisierung vieler Lebensbereiche akzeptieren. Ergreifen wir deshalb Berufe, die abstrakt und ohne Seele sind? Überlassen wir darum einer durchkapitalisierten Welt das Feld? Tolerieren wir aufgrund dessen eine neue Tendenz zur Barbarei und Gewalt im ökonomischen Gewand? Dieser Gedanke kam mir kürzlich, als ich hörte, dass niedersächsische Hausfrauen einem Geisterheer von unterbezahlten Osteuropäern ihre Hilfe andienen: 50 Euro für eine Arztbegleitung, 150 Euro für einen Kindergeldantrag! Nimmt uns die Orientierung an ökonomischen Grundsätzen gleichzeitig die Moral?
Alternativen suchen
In einem Zeitungsartikel bin ich über einen Satz gestolpert, der mir zu denken gegeben hat. Da hieß es, dass wir uns überhaupt kein alternatives Systems mehr vorstellen könnten. Statt eine Kultur der Gleichheit und der Zusammenarbeit zu befördern, orientierten wir uns zunehmend und zielstrebig an ökonomischen Maßgrößen. Stimmt, behaupte ich. Denn alternative Ansätze gibt es kaum. Die Überlegungen zu einer Gesellschaft in Postwachstum oder etwa die Rückkehr zu lokalen Tauschbörsen sind zumeist negativ gewendet, also kein Wachstum, kein Geld. Auch die Gemeinwohlökonomie hat bisher keinen Widerhall in der breiten Gesellschaft oder gar außerhalb Europas gefunden. Folglich sind aktuelle Vorschläge nicht mehrheitsfähig bzw. nicht Teil der Gesetzgebung oder Regelsetzung.
Möglichkeiten schaffen
Wie kann es angehen, dass wir unsere gigantischen, materiellen und intellektuellen Kräfte zur Errichtung einer freien Gesellschaft nicht nutzen, sondern weiterhin individuelle kleine Anhängsel einer losgelassenen Ökonomie sind? Längst könnten wir die entstandenen finanziellen Spielräume dafür nutzen, verantwortungsvolle Arbeit zu gestalten, unternehmerisches Kalkül für soziale oder ökologische Zwecke einzusetzen und am erwirtschafteten Vermögen mehr Menschen teilhaben zu lassen. Das Internet böte vielfache Möglichkeiten Menschen vermehrt in demokratische oder gestalterische Prozesse einzubinden und neue Zugänge zu Bildung zu eröffnen.
Zugespitzt leben wir auch heute in einem Albtraum, den Camus schon vor einer ganzen Weile träumte, das war 1948: „Zweitausend Bankiers und Techniker herrschen über ein Europa von hundertzwanzig Millionen Einwohner, wo das Privatleben vollständig mit dem öffentlichen Leben zusammenfällt, wo ein absoluter Gehorsam der Tat, des Gedankens und des Herzens alles gleich und alles gleichermaßen produktiv macht.“
Visionen umsetzen
Camus hatte seinerseits gleich eine Alternative zu diesem Schreckensszenario vorgestellt. „In Zehn Jahren, in fünfzig Jahren wird die Vorherrschaft der westlichen Zivilisation nicht mehr selbstverständlich sein. Umso mehr muss man jetzt schon daran denken, ein Weltparlament zu eröffnen, auf das seine Geste zum universellen Gesetz werde.“ Das erscheint aus heutiger Sicht fast zu visionär, zu sehr nach der großen Geste, zu wenig nach dem, was für jeden von uns umsetzbar erscheint. Aber Camus’ Gedanke weist den richtigen Weg. Daher möchte ich drei persönliche Gedanken einbringen:
„Schaffe mit Deinem Geist Wirklichkeit“
Wenn wir selber überzeugt anpacken, wird die uns eigene Hochherzigkeit ganz natürlich in unsere Arbeit einfließen. Es ist nicht unsere Natur, in einer sozial-kalten und anonymen Gesellschaft zu leben. Der Landwirt will nicht Agrarindustrieller sein, der Ingenieur liebt das technische Rätselraten und nicht die Industrieproduktion, den Handwerker fasziniert die Liebe zum Detail.
Daher habe ich für mich entschieden, Strukturen zu vermeiden, in denen ich systematischen Fehlanreizen unterliege. Ich möchte nicht in Firmen arbeiten, die mich zu unethischem Verhalten antreiben. Ich möchte konzerninterne Abteilungskämpfe um das dickste Budget nicht ausfechten. Diese Handlungen verändern mich und nicht zum Guten.
„Folge deinem eigenen Weg“
Ich war im Alter von 20 Jahren ein rollender fast schon mit Erfahrung bemooster grüner Stein. Mit Ecken und Kanten, einmal in Bewegung auch gegen Widerstände kaum aufzuhalten. Im Zweifel immer für die Umwelt. Aber ich brauchte 20 Jahre Irrungen über ein Volkswirtschaftsstudium und eine Konzernkarriere, nur um geistig am gleichen Punkt wieder anzukommen: Ich möchte soziale und ökologische Missstände nicht hinnehmen, sondern selber etwas tun.
Meine Erfahrung ist, dass der eigene Weg zumeist ganz offen vor einem liegt. Was fehlt ist die Ruhe hinzuhören und das Fühlbare Wirklichkeit werden zu lassen.
„Zeige mehr Entschlussfreude“
Vor 18 Monaten gründete ich mit einem Kompagnon eine grüne Sportförderung. Die ist heute pleite. Vor sechs Monaten traf ich einen Erfinder. Heute gibt es durch meine Mithilfe genug Geld für die erste Kleinserie einer „Bienen-Sauna“, finanzielle Sicherheit für 6 Monate und die Aussicht darauf, Bienen vor dem Massensterben zu retten. Seit ein paar Wochen beschäftigt mich die Frage, wie Flüchtlingen in Deutschland so geholfen werden kann, dass eine Integration für alle Beteiligten möglich und wünschenswert ist.
Den Entschluss zu fassen, sich für Gutes zu engagieren, das kann jeder. Ich bin nicht mutig, sondern lediglich beharrlich und offen für das Neue, was unweigerlich auf einen zukommt, wenn man am eingeschlagenen Weg festhält.